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Brief an einen Freund aus dem Westen von Cǎtǎlina Russu, Moldawien

Lieber Freund,

Als Du klein warst, hast Du wahrscheinlich auch Märchen über Prinzen und Prinzessinnen gelesen. Die meisten hatten vermutlich denselben Anfang und dasselbe Ende: Der reichste Prinz heiratete das ärmste Mädchen aus dem Königreich, und alles war gut.

Wie die meisten bist Du wahrscheinlich auch mit der Erkenntnis aufgewachsen, dass die schöne und gute Prinzessin ein Niemand geblieben wäre, wenn sie den Prinzen nicht kennengelernt hätte.

Ich will Dir dir auch so ein Märchen erzählen, nur in meiner Version. Es gibt auch da eine gute und schöne Prinzessin, die auch arm ist, und das Land in dem dieses Märchen spielt, ist die Republik Moldau.

Wenn Du ein guter Schüler in Geschichte gewesen bist weißt Du, dass Moldawien ein post-sowjetischer Staat ist, der 1991 unabhängig wurde. Und wenn Du die Wirtschaftsnachrichten liest, dann hat es keinen Sinn Dir jetzt mehr zu sagen, als dass wir in Moldawien im ärmsten Land Europas leben.

Das wäre es, was du von uns wissen könntest. Es zählt nicht, wie viele talentierte Menschen von uns über Deine Schwelle traten, es zählt nicht wie viele moldauische Schüler bei Wettbewerben internationale Medaillen bekamen, es zählt nicht wie viele malerische Orte wir haben und um wie viele Reformen und Gesetze wir uns bemüht haben. Du weißt nur, dass wir das ärmste Land in Europa sind, ein Land, das ständig Hilfe braucht.

Du fragst mich immer, ob wir Straßen haben? Ob wir Strom in den Häusern haben?

Du fragst mich immer, ob wir Straßen haben? Ob die Kinder zur Schule gehen? Ob wir Strom in den Häusern haben? Ob wir zu essen haben? Womit wir fahren?

Du sollst wissen, dass ich Dir ob dieser Fragen nichts vorwerfe. Ich würde einer Person die gleichen Fragen stellen, wenn diese Person monatlich im Durchschnitt 200 Euro verdient, ungefähr dreizehn Mal weniger als Du.

Aber lass mich versuchen Dich zu beeindrucken und Dir ein paar Sachen aufzählen. Denn ich wette, dass Du nicht einmal bei Dir so viele Luxus-Autos gesehen hast, wie sie bei uns auf den Straßen fahren. Von den Häusern spreche ich gar nicht erst. Die Paläste aus den Märchen sind bei uns gewöhnliche Häuser in unseren Städten.

Schulen? Jedes Kind geht zur Schule, und 95 Prozent sind alphabetisiert. Wir haben über zehn nationale Nachrichtensendungen für eine Bevölkerung von nicht einmal vier Millionen und 30 Universitäten in einer Stadt, deren Einwohnerzahl eine Million nicht überschreitet. Vergnügungen? Die Cafés sind an jeder Ecke wie die Perlen an einer Kette aufgereiht, und die Preise, glaub’ mir, sind nicht anders als bei Dir. Was soll ich noch von der Kleidung sagen, Tommy Hilfiger und Dolce & Gabana kannst du locker finden, bei Billigmarken wird es schwierig.

Gas bekommen wir im Winter fast zum gleichen Preis wie Du, und diesen Brief schicke ich Dir durch eines der schnellsten Netzwerke der Welt.

Ist es nicht erstaunlich, dass das ärmste Land Europas einen solchen Luxus hat?

Ist es nicht erstaunlich, dass das ärmste Land Europas einen solchen Luxus hat? Alles da. Nur, dass sich diesen Luxus niemand leisten kann. Ja, weil wir arm sind und stolz, weil wir uns erniedrigen. Weil wir die WC’s im Ausland putzen, die Fenster, die Böden, Taxi fahren, Kinder betreuen, die Großeltern anderer Kinder und die Kinder anderer Eltern pflegen, nur damit wir teure Autos zu Hause fahren können. Glaub’ es mir: Diejenigen, die heute die Toiletten in Italien, Frankreich und anderen Ländern reinigen, sind bei uns zu Hause in Wirklichkeit Professoren, Ärzte, Juristen …

Wir haben einen großen Fehler. Vielleicht hörst Du deswegen nicht so viele gute Sachen über uns. Es gefällt uns sich überall zu beklagen. Dass wir ein schweres Leben haben, dass wir aus unserem Land fliehen, die Grenzen überschreiten und hinter uns lassen, um anderwo eine bessere Zukunft zu finden. Auch ich, eine typische Moldawierin, schreibe Dir diesen Brief, und beschwere mich.

Zum Schluss sage ich Dir nur, Moldawien oder Moldau, wie wir selbst sagen, ist das arme Mädchen aus den Märchen. Es ist eine mögliche Prinzessin, die sich seit 23 Jahren nicht entscheiden kann, woher ihr rettender Prinz kommen soll: Aus dem Westen oder aus dem Osten?

Urteile nicht vorschnell und glaub’ nicht alle Märchen, die man über das Land dieser wankelmütigen Prinzessin erzählt. Wenn Du einmal nach Zentraleuropa kommst, schaue vorbei und Du wirst sehen, dass vieles, was Du Dir über den ärmsten Staat Europas vorgestellt hast, auf Vorurteilen aufbaut.

Viele herzliche Grüße,

Catalina

P.S.: Moldawien hat am 28. April 2014 Visumfreiheit für die Schengenstaaten erhalten. Am 27. Juni hat sie das Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben. Wir sind nun einen Schritt näher bei Euch. Nehmt uns als die Eurigen auf und nicht als das ärmste Land Europas.

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