Grenzgeschichten

Der Chamäleon-Effekt von Olena Slavska, Iryna Kuzmich und Diana Olendr

Bis gerade hörte man noch das Summen einer Fliege. Nun lässt sie sich ein Chamäleon schmecken. Gut getarnt hat es lange auf sein Opfer gewartet. Das Reptil ist ein listiger Anpasser. Wenn es bedroht wird, es etwas zu fressen gibt, wechselt es seine Farbe. In der Ukraine werden Bürger als Chamäleon bezeichnet, die trotz Verbots einen EU-Pass bekommen. Freier Zugang nach Europa inklusive.

Was lockt die Ukrainer? Welchen Preis zahlen sie dafür? Ist es nur Durst nach einem besseren Leben? Steckt dahinter noch mehr?

Nicht zum ersten Mal fällt die Ausgabe rumänischer Pässe in der Region Czernowitz auf. Rumänien und die Ukraine teilen sich die fruchtbaren Hügel in der Bukowina. Dieses Mal ist die Passvergabe allerdings mit den dramatischen Ereignissen in der Ukraine verbunden. Um die 50.000 bis 150.000 Dokumente und damit sozusagen EU-Einbürgerungen soll es sich handeln. Die Behörden, rumänische wie ukrainische, geben sich bedeckt, dementieren aber auch nicht. Was zwingt die Ukrainer diese Grenze zu überschreiten?

In der Ukraine werden Bürger als Chamäleon bezeichnet, die trotz Verbots einen EU-Pass bekommen. Freier Zugang nach Europa inklusive.

Das erste was ein Bukowiner von der neuen Staatsbürgerschaft erwartet, ist Arbeit und Aufenthalt in einem EU-Land. Indem sie auf einen hoch bezahlten Job hoffen, leiden die Ukrainer indes selbst an ihren eigenen Illusionen. Einen leichten Verdienst wird es nicht geben, noch weniger Arbeiten mit Prestige. Deshalb sind für sie die Alternativen auf dem Arbeitsmarkt nicht groß: Schwarzarbeiter oder Schwarzarbeiter.

Vergrößern

Kameleon-Syndrom-infogr2-Diana-Olendr-e1412110020926

Diana Olendr

Wichtig ist ebenfalls, dass die ukrainischen Rumänen Autos importieren können. Mit einem rumänischen Pass kauft der Bukowiner ein gebrauchtes Auto für einen handelsüblichen europäischen Preis, der paradoxerweise niedriger ist als der in der Ukraine.

Die Ukrainer leiden selbst an ihren eigenen Illusionen. Einen leichten Verdienst wird es nicht geben: Schwarzarbeiter oder Schwarzarbeiter.

Das rumänische Domnul ist die Ehrbezeugung für Herr, und Domnul Stepan ist solch ein frisch gebackener Rumäne. Auf seinen Vornamen verzichtet er als Domnul, vielleicht aus Stolz, weil es ihm vor kurzem gelungen ist, seinen Pass erstmalig erfolgreich zu nutzen:

„In den letzten fünf Jahren fuhr ich einen BMW 525 von 1995. Das Auto ist nicht neu, lief mehr als dreihunderttausend Kilometer , deshalb musste es immer öfter repariert werden. Ich hatte es satt. Ich habe es für fünftausend Euro in der Ukraine verkauft und habe in Deutschland einen Volkswagen Passat Variant 2010 für sechstausend Euro gekauft…“

Neben wirtschaftlichen Vorteilen haben die bukowinischen „Chamäleons“ noch ein weiteres Plus ausgemacht. Wo aufgrund der ukrainischen Tragödie tausende junger Männer und zunehmend auch Frauen zum Kriegsdienst eingezogen werden, nutzen immer mehr Menschen die doppelte Staatsbürgerschaft zu Fahnenflucht „light“, um Schutz bei ihren Nachbarn zu finden.

Immer mehr Menschen nutzen die doppelte Staatsbürgerschaft zu Fahnenflucht light.

Die ukrainische Justiz ist einfach zu umgehen, das Gesetz schreckt niemanden ab. Die Untreue zur Heimat wird gerade einmal mit einem Bußgeld zwischen zehn und 100 Euro bestraft.

Etwas ganz anderes passiert in Rumänien, wo die doppelte Staatsbürgerschaft legal ist. Alle Einwohner im Gebiet Czernowitz erhalten einen rumänischen Pass, wenn ihre Vorfahren vor dem 28. Juni 1940 die rumänische Staatsbürgerschaft hatten.

Vergrößern

Kameleon-Syndrom-infogr1-Diana-Olendr-e1412110030152

Diana Olendr

Das genaue Verfahren der Ausstellung der rumänischen Pässe wird selbst der faulste Internet-Nutzer herausfinden können. Harte Arbeit ist lediglich die dabei stetig wachsende Dokumentensammlung, die überdies rumäische Sprachkenntnisse voraussetzt. Es gibt allerdings, wie für alle unangenehmen Dinge bereitwillige Menschen, die dem Interessenten Unangenehmes abnehmen. Erfahrene Leute fürs Unangenehme können dem Rumänienaspiranten ein große Hilfe sein. Es muss jedoch gesagt werden, dass diese Hilfe nicht immer legal ist. Gesetze können übertreten und rumänische Wuzeln damit nachgewiesen werden. Obwohl man vom Urgroßvater an Ukrainer ist und keinen einzigen Tag in der Bukowina gelebt hat.

Bürgern, welche die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, kann die ukrainische nur auf eigenen Wunsch und durch ein Dekret des Präsidenten entzogen werden.

Menschen zu finden, die diese Dokumentendienste anbieten, ist ein Leichtes. Ein zwangloses Telefon- oder Skypegespräch, und es wird einem eine ganze Palette an Dienstleitungen offenbart, Produktionszeit inklusive, fehlende Verwandte – kein Problem. Alles eine Frage des Preises, Doppelstaatsbürgerschaft Marke Premium. Einige Monate des Wartens – und ohne großen Kraftaufwand, bürokratischen und unnötigen Sorgen erhält man seinen rumänischen Reisepass.

Die ukrainische Gesetzgebung leidet an effektiven Rechtswegen, diesen Missbrauch auszuschließen. Rechtsanwalt Sergej Bodnar kommentiert die Situation wie folgt: „Bürgern, welche die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, kann die ukrainische nur auf eigenen Wunsch und durch ein Dekret des Präsidenten entzogen werden. Seine Wurzeln kann man nur sich selbst abhacken.“

Grenzregionen sollen eine Festung eines Staates sein. In der Ukraine sind sie das schwächste Glied.

Die Chamäleone werden nur mäßig von der Staatsmacht angegangen. Der ukrainische Staat ist schwach. Lediglich ein Gesetzentwurf liegt dem ukrainischen Parlament, der Rada, vor, der den ausländischen Einfluss auf die Souveränität der Ukraine eindämmen soll. Wird er angenommen, droht Ukrainern mit doppelter Staatsbürgerschaft einen Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren.

Doch ist dies noch alles Papier. Und das ist geduldig. Politiker aus den Grenzgebieten nehmen das Problem der doppelten Staatsbürgerschaft und seiner Chamäleone nicht erst. Den geopolitischen Gesetzen zufolge, sollen gerade Grenzregionen eine Festung eines Staates sein. In der Ukraine sind sie das schwächste Glied. Die Verschärfung der internen Konflikte gefährdet die Ukraine. Dies regt stark den ungesunden Appetit der Nachbarn mit post-imperialen Ambitionen an. Russland hat schon einen Teil der Ukraine unter dem Schutzmantel von Bürgerrechten annektiert – vorbereitet durch eine massive Ausgabe von russischen Pässen an Ukrainer. Die aktive Romanisierung der Bukowinabürger zwingt dazu, sich unwillentlich Gedanken zu machen, ob dies nicht ein weiteres „Trojanisches Pferd“ ist?

Weiterlesen: