Ukraine

Ostukraine – ein Kriegsbericht von Stefaniya Broshkova, Kateryna Shvets und Tetiana Mostipan

Das Herz schlägt schneller. Die Hand, die die Waffe hält, wird schwer. „Du musst! Er ist unser Feind. Er hat das verdient. Es ist deine Pflicht…“ Gedanken schießen in den Kopf. Vor den Augen läuft ein Film: Kinderarmut, Tränen von Frauen, unsäglicher Schmerz der Mütter. „Wenn ich es nicht mache, dann trifft es mich oder mein Kind… er ist der Feind!“ Ein weiterer Moment des schmerzhaften Zögerns, ein Schrei des Kommandanten und ein Schuss. Dies ist ein Wendepunkt, der Erste ist getötet.

Dann kommen die Tage des Schweigens und die schrecklichen Nächte, wo du statt Träumen die Beerdigung derjenigen siehst, welche durch deine Hand gestorben sind, und du wachst von durchdringenden Schreien des Babys auf, das du in deinem Kopf hörst.

Der Weg war anstrengend. Die Fantasie zeichnete mehr und mehr Bilder von der nahen Zukunft. Angst wechselte um in Bestimmung. Der Mann zog in den Krieg. Die komplizierte Situation und übersteigerter Patriotismus erlauben kein langfristiges Überlegen: Im Mai wurde Alexander Bojko als Freiwilliger einberufen. Er wollte gegen Angreifer kämpfen, weil es erstens nur wenige Separatisten gab und zweitens es vergebens ist jemanden zu überzeugen. „Die Menschen werden angelogen“, sagt er.

Man muss auf Straßensperren patroullieren, Wachdienst schieben , Fallen aufstellen. Streifzüge. Nachrichtendienst. Bojko kochte für die Soldaten.

„Ich wurde dort gebraucht. Es war äußerste Aggression von Anfang an. Die Heimat müssen wir doch verteidigen“, sagt er ein paar Monate später, als er vom Kampfschauplatz zurückkommt. Gegen seinen Willen.

Der Verteidigungsdienst ist anstrengend und dauert rund um die Uhr. Als Erleichterung dient die Bruderschaft unter den Soldaten. Die Konzentration darauf, jenseits der zivilen Karriere als Betriebswirt oder auf inkompetente Kommandanten, eine Hürde, lenkt davon ab.

Es gibt viele militärische Aufgaben. Man muss auf Straßensperren patroullieren, Wachdienst schieben, Fallen aufstellen. Streifzüge. Nachrichtendienst. Bojko kochte für die Soldaten.

An den Kämpfen nimmt er selten teil, er, der Truppenkoch, der Küchentiger, der Küsche, Smutje oder wie man die Kellenschwinger in Truppenteilen sonst noch nennt. Meist machte der 33-Jährige aus Sumy im Nordosten der Ukraine das Leben seiner „Blutsbrüder“ angenehmer. Scherzhaft bezeichnet er sich als ehrenamtlicher Psychologe: „Kommunikation war meine Hauptaufgabe. Ich war nützlich als Beichtvater, weil es notwendig ist, sich um das Team zu kümmern, für seinen moralischen Zustand sorgen, sie irgendwie zu motivieren. Wahrscheinlich ist es mein Schicksal zuzuhören. Alle haben sich an mich wegen moralischer Unterstützung gewandt, sogar ein Psychotherapeut aus dem Militärhospital.“

Das sind getötete Menschen, getötete Träume und Hoffnungen. Das sind vorzeitig und tragisch zerrissene Leben.

Der Truppenkoch Alexander Bojko wurde dennoch verletzt. Schwer verletzt. Ein Minenangriff in Slowjansk wäre fast tödlich für ihn ausgegangen. Der Geschosssplitter wurde vom Wirbelsäulenfortsatz abgefälscht und verpasste das Herz. Die Operation war erfolgreich. Überraschend wurden weder Herz, noch Atemwege oder Rückenmark beschädigt. Das Fazit der Ärzte war klar – da ist jemand dem Teufel von der Schippe gesprungen.

Neben dem Körper wurde die Seele verletzt. Den Soldaten zerreißt die Angst getötet zu werden und die Furcht zu töten. Es ist noch nicht bekannt, welche von beiden stärker ist. Viele erbrechen sich, halluzinieren, schreien. Überlebt man eine Schlacht, kehrt man sofort nach Hause zurück, weil es die nächste Schlacht zu überleben gilt. Es ist unerträglich. Von den Offizieren nach einer Mission zur psychologische Rehabilitation geschickt, hören manche auf zu reden, leiden an Albträumen.

Und die Träume sind bei jedem anders. Jemand kann sich den getöteten Feind nicht verzeihen, einem anderen ist es egal, welches Mittel er wählte, um seinen Zweck zu erreichen. Seelenfrieden und persönliche Gründe – sie gehen Hand in Hand über. „Ich wollte mir ein Tablet kaufen, und sie haben uns eine Menge Geld versprochen. Nun, was?“, sagte Bojko zufolge ein gefangener Söldner zu den ukrainischen Soldaten.

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Jetzt ist Alexander Bojko zu Hause zur Rehabilitation, aber es vergeht keinen einziger Tag ohne Kontakt zu seinen Freunden an der Front. Die Nachrichten sind nicht immer gut: „Gestern starben vier von uns. Sie halfen Fallschirmjägern. Die meisten von denen sind bei lebendigem Leibe verbrannt. Man rettete wen man konnte und setzte sich selbst aufs Spiel. Es ist nicht einfach.“

Dieser Fall ist ein Tropfen im Ozean. Im Allgemeinen hat die Militäroperation im Osten der Ukraine 9.000 Leben gekostet, 1.300 von ihnen sind zivile Opfer. Das sind getötete Menschen, getötete Träume und Hoffnungen. Das sind vorzeitig und tragisch zerrissene Leben. Es gibt Menschen, die etwas mehr Glück hatten, aber die blutige Hand des Krieges ist an ihnen nicht vorbeigegangen. Das sind die mehr als 7.000 Verwundeten.

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Die Zeit vergeht. Wunden heilen. Der Krieg geht weiter. Bald kehrt Alexander Bojko aus Sumy, 33 Jahre alt, zum Dienst zurück. Das Unglück liegt daran, dass es Tausende wie ihn gibt. Das Entsetzen besteht darin, dass sich die menschlichen Ressourcen erschöpfen. Die Trauer der Nation besteht darin, dass feindliche Kugeln immer öfter Verwundete und Tote fordern.

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