Die ukrainische Maidan-Revolution 2014 hat nicht nur das Gleichgewicht der politischen Kräfte geändert, sondern dem postsowjetischen Denken auch einen tiefen Riss verpasst. Der Mythos über das brüderliche Volk wurde entlarvt. Das Ergebnis ist ein Boykott alles Russischen in der Ukraine, insbesondere seiner sozialen Netzwerke. Immer öfter greifen die Ukrainer zu Facebook und lösen ihre Zugänge bei russischen Anbietern wie Vkontakte und Odnoklasniki auf.
Patriotismus blendet die Augen der Ukrainer so sehr, dass ihnen das wahre Gesicht des Business hinter den sozialen Netzwerken verborgen bleibt. Internetseiten werden als Freund oder Feind wahrgenommen, es wird vergessen, dass die Nutzer bare Münze sind, fast schon börsennotiert, dass Geld die Neigung hat von einer Hand in die andere zu fließen. Nominal hat die Ukraine mehr als 20 Millionen Internetnutzer. Um diesen Leckerbissen wird gekämpft.
Nun stelle man sich vor, dass die Nutzer der bunt-bequemen Social-Media-Welt Spielmarken in einem Pokerspiel sind. Wie würde dieses Spiel aussehen?
Alles ist bereit für den Spielbeginn. Ein Lichtstrahl gleißt in der Mitte des Spieltisches auf. Die Silhouetten zweier Männer sind zu erkennen. Angespannte Stille wird durch Fingerklopfen unterbrochen. Spieler Vkontakte ist genervt. Mitspieler Odnoklassniki versucht die Situation zu entschärfen:
Patriotismus blendet die Augen der Ukrainer so sehr, dass ihnen das wahre Gesicht des Business hinter den sozialen Netzwerken verborgen bleibt.
Odnoklassniki: Ruhe. Facebook verspätet sich. Er scheint bei einem Business-Meeting zu sein. Aber das Spiel verpasst er nie.
Vkontakte (entrüstet): Was erlaubt er sich? Maybach und Armani-Anzug geben ihm kein Recht, so arrogant zu sein. Noch eine Minute und ich gehe. Wer braucht dieses Spiel eigentlich am meisten? Ich habe genug ukrainische Nutzer. Heute werden wir uns messen.
Ihr Gespräch wir durch das Knarren der Türe unterbrochen. Facebook kommt sicheren Schrittes hinein. Eine junge hübsche Frau und ein stilvoller Teenager begleiten ihn. Sicher und ohne Eile nehmen sie mittig am Tisch Platz. Niemand macht Facebook Vorwürfe. Er ist zu stark, um einen offenen Schlagabtausch zu wagen. Das Spiel beginnt. Heute sind die Einsätze hoch wie nie zuvor. Es geht um Millionen ukrainischen Nutzer.
Facebook: Wann wurde Schmuggel und Diebstahl zu einem Unternehmen? Glaubst du, dass du die Menschen wegen Pornos for free an dich bindest?
Facebook (spöttisch): Haben die Gentlemen ihre Spielmarken? Oder sind Sie nur gekommen, um bequem zu sitzen?
Vkontakte (selbstbwusst): Ha-ha… Obwohl es mir nicht bestens geht wird mein Geschäft immer seine Kundschaft haben.
Facebook: Wann wurde Schmuggel und Diebstahl zu einem Unternehmen? Glaubst du, dass du die Menschen wegen Pornos ‚for free‘, wegen Musik- und Film-Raubkopien an dich bindest und knechten kannst? Ich verstehe immer noch nicht, wohin die Polizei schaut. Du arbeitest ja mit ihr zusammen. Ich habe gehört, wie du die persönlichen Daten deiner Benutzer dem russischen Geheimdienst FSB übergibst. Auf solche Weise verdienen seriöse Leute also ihr Geld?
Vkontakte: Es ist nicht mein Problem, dass die Nutzer genau das herunterladen. Ich halte niemanden gewaltsam.
Facebook (missbilligend): Du hältst niemanden? Hmmm…Du bist doch nichts mehr als ein Werkzeug der russischen Propaganda. Ich sehe doch deine Ware. Wir haben nichts miteinander zu besprechen. Ich wähle andere Methoden. Was du nie schaffst.
Vkontakte: Wir haben eine Menge gemeinsam, vergiss das nicht.
Vkontakte: Man vertraut dir blind, und es passt dir so. Niemand liest deinen Nutzungsvertrag.
Facebook (kalt): Was du nicht sagst! Die Ideen, welche du bei mir gestohlen hast, nennst du Ähnlichkeit? Vergiss nicht, wer hier wer ist. Mit meiner Hilfe fanden zwei Revolutionen statt – Ägypten und Ukraine. Weißt du, warum? Weil die Leute mir vertrauen…
Vkontakte: Man vertraut dir blind, und es passt dir so. Niemand liest deinen Nutzungsvertrag und du eignest dir ihre Fotos und Videos an, ohne dass sie es wissen.
Facebooks Blick bedeutet, dass das Gespräch zu Ende ist. Die Spielmarken werden auf dem Tisch ausgebreitet. Die Marge für den ersten Einsatz liegt bei dreihunderttausend. Die Spieler geben sich entspannt. Sie sind ruhig. Jeder Teilnehmer beurteilt seine Chancen, beobachtet den Gegner.
Der Rauch der kubanischen Zigarre, die Facebook sich am Anfang des Spiels angezündet hat, wabert durch den Raum.
Facebook (starrt Odnoklassniki an): Meine Herren, erhöhen wir die Einsätze! Eine Million. Odnoklassniki?
Trotz des beträchtlichen Gewinns, weiß Odnoklassniki um die tatsächliche Anzahl seiner Nutzer. Die russischen Rubel, mit denen er gewöhnlich zahlt, kann er vergessen. Andere Devisen hat er nicht. Odnokklassniki wirft seine Karten auf den Tisch und gibt auf.
Die darauf eintretende Stille durchbricht Kinderlachen. Ein barfüßiger Junge rennt in das Zimmer. Er scheint sich ernsthaft an der Herrenrunde beteiligen zu wollen. Die Anwesenden deuten dem Jungen, der We.ua heißt, dass er diesem Spielniveau noch nicht gewachsen ist. Tränen schießen We.ua in die Augen, als er das kapiert. Er nähert sich dem Tisch und stiehlt Vkontakte eine Spielmarke. Facebook wirft ihm einen demütigenden Blick zu und schiebt ihn zur Seite. Der Junge fällt zu Boden. Es wird Jahre brauchen, bis We.ua sich zu einem echten Spieler entwickelt und mit den Großen mithalten kann.
Instagram, die wunderschöne Facebook-Begleiterin, bringt die Runde zum Lachen. Sie ist von sich selbst so eingenommen, dass sie das in einem Selfie festhalten muss.
Vkontakte: Hat deine Geliebte keine Manieren? Was sucht sie überhaupt hier? Das gilt auch für Whatsapp, ihren Bengel!
Facebook: Wir sind zwar zusammen da, aber an diesem Tisch spielt jeder für sich alleine.
Vkontakte: Was du nicht sagst. Seid ihr nicht schon seit 2012 ein Team mit Instagram und habt jetzt auch Whatsapp adoptiert?
Facebook: Hättest du die Kohle, würdest du mir auch diese Idee klauen.
Der Zigarettenrauch löst sich auf. Die Konzentration steigt. Die Luft knistert vor Spannung. Die Einsätze steigen. Jeder hält seine Karten verdeckt. Der Ausgang des Spiels ist nicht absehbar…
Die Erwartung, dass soziale Netzwerke ihr tückisches Datengebahren ändern, sollte aufgeben werden. Mit der Verschiebung von Einflusssphären sind in der Ukraine-Krise die Nutzer mehr Verfügungsmasse denn je, ein Jackpot aus Masse zwischen West und Ost. Jeder muss entscheiden, ob er zur Marionette wird oder nicht. Wenn die Menschen ihre Augen öffnen, werden die Einsätze am Spieltisch sinken. Die Hoffnung, dass die ukrainischen Internetnutzer mehr als Spielmarken sein werden, sollte trotzdem weiterleben.